Ein etwas ungewöhnlicher Einstieg ins Thema:
Eine mittelgroße Stadt in Südhessen zählt zu ihren wenigen bedeutenden Bauten ein Festungsbauwerk aus dem 15. Jahrhundert. Das Bauwerk war bis in die 80er Jahre hinein verfallen und von wuchernder Vegetation überwachsen. Dann endlich rafften sich Magistrat und Denkmalpfleger auf und konzipierten eine Wiederherstellung und Freilegung der Gebäudesubstanz. Es folgte eine jahrelange erbitterte Debatte zwischen Denkmal- und Naturschützern, die statt dessen unbedingt das gewachsene Biotop erhalten wollten. Die Auseinandersetzungen hätten beinahe dazu geführt, die örtlichen „Grünen“ zu spalten.
Was war passiert? Es war zu einem Interessenwiderstreit gekommen, den so niemand vorher hatte kommen sehen wollen. Auf beiden Seiten der Front standen Werte, die vorher bei ein und denselben Personen positiv besetzt waren. So lange diese Werte nicht an einem konkreten Fall in Kollision gerieten, war es bequem, die Möglichkeit einer solchen Kollision zu verdrängen. Debatten, die sich dann am Aufflammen solcher Konflikte entzünden, haben die Eigenschaft, unübersichtlich, unsortiert, unreflektiert und deshalb hochgradig hysterisch zu verlaufen. Und da werden sich plötzlich eine marode Festung der Grafen zu Katzenelnbogen und die Beschneidung jüdischer Kleinkinder ähnlich.
Die Zentralratsvorsitzende, Frau Knobloch, hat mit ihrer Bemerkung, sie frage sich, ob Deutschland auf seine Juden eigentlich noch Wert lege, gezeigt, was unsortiertes Argumentieren auszeichnet: hauptsächlich die Einebnung von Differenzierungen, ohne die man kaum versteht, worum es eigentlich geht. In der Folge hiervon geraten religiöse, rassische und rassistische Gesichtspunkte durcheinander.
So ist bislang anscheinend noch niemandem aufgefallen, dass eine Restriktion der Beschneidungspraxis genau den Schutz der körperlichen Integrität jüdischer Kleinkinder vor religiösen Praktiken jüdischer Erwachsener bewirken würde. Weder andere Kinder noch andere Erwachsene wären überhaupt betroffen. Antijüdisch mag so eine Restriktion sein, allerdings auch das nur unter einem religiösen Gesichtspunkt; antisemitisch ist sie mitnichten.
Dem entspricht es auch, dass sich die Nazis aller Spielarten für die Beschneidungsdebatte offensichtlich nicht im Geringsten interessieren. Rassisten interessiert Rasse, nicht Religion. Die Einwände gegen die Beschneidungspraxis kommen stattdessen hauptsächlich aus dem humanistischen Lager – und damit aus einer Ecke, aus der heraus Juden in Deutschland und anderswo am allerwenigsten mit Verfolgungen zu rechnen haben.
Die humanistische Position orientiert sich an der Geltung universeller Menschenrechte, zu der vor aller Weltanschauung Leben und körperliche Unversehrtheit gehören. Dieser humanistische Schwung speist sich gerade aus den bitteren Erfahrungen aus tausendjährigen Zeiten Deutschlands, der bis in die Grundrechtssystematik und in die (verglichen mit anderen Ländern) hohe Bedeutung des Rechtsstaatsprinzip hineinreicht, und es liegt nahe anzunehmen, dass die Beschneidungsdebatte deshalb genau in Deutschland aufflammen musste – nicht aber wegen eines weiterglimmenden Antisemitismus. Indem das nicht oder unzureichend wahrgenommen wird, wird auch der Verlauf der Fronten zwischen den beiderseits ursprünglich positiv besetzten Wertmodellen falsch identifiziert, und das trägt zur Hysterie der Debatte nicht wenig bei. Es geht tatsächlich nicht um Pro- oder Antisemitismus, es geht ausschließlich um die Kollision säkularer und religiöser Werte. Purer Zufall, dass nicht eine andere Religionsgemeinschaft betroffen war. Muslime haben einen ähnlichen Streit übrigens auch schon hinter sich gebracht: den um die Schächtung von Schlachttieren.
Für deutsche Juden ist das eine böse Ironie der Geschichte: der humanistische Impuls, der aus ihrer rassischen Verfolgung resultierte, wirft jetzt eine Konfliktlage mit ihrer religiösen Identität auf – was auch mit der nicht einfach nachvollziehbaren Doppelung von religiöser und ethnischer Identität im Judentum zu tun hat.
Was folgt daraus praktisch? Offen gesagt: Ich weiß es im Ergebnis nicht. Es ist sicher möglich – und wird womöglich eine Art Pax Romana in dieser Frage herstellen – anhand klassischer Grundrechtsabwägungen eine rechtsdogmatisch begründete Lösung zu finden, mit der dann alle leben müssen. Mindestens eine Seite bleibt dabei unbefriedigt, aber so ist das eben. Welche Lösung mir persönlich vorschwebt, kann man sich denken, ansonsten schriebe ich nicht in einem Skeptikerblog.
Über eines sollte aber Klarheit bestehen: Die Beschneidungsdebatte hat keinen antisemitischen Einschlag – es geht, wie gezeigt, ja gerade um die Frage des körperlichen Schutzes von Angehörigen des Stammes Sem geht. Aufrichtigerweise sollte der Streit deshalb nur als das ausgetragen werden, was er tatsächlich ist: ein Kulturstreit.
Übrigens: Damals, in der Stadt in Südhessen, haben sich die Denkmalschützer durchgesetzt.